Möhre oder der Weg nach Kalk

Wie kommt man am besten nach Kalk?

Von der Mülheimer Brücke oder von der Deutzer Brücke in die Kalk-Mülheimer-Straße einbiegen, also in die unübersichtlichste gerade Straße Kölns, 
von der A3 über Gremberg,
oder einfach von der Stadtautobahn die Ausfahrt nach Mülheim und vor Merheim nehmen?
Ich habe immer diese letzte Variante gewählt. 

Es passierte einfach so, wie die meisten Dinge, gerade in den ersten Jahren einfach passieren, in dem Gefühl, dass alles neu und einzigartig ist. Ich hatte auch ein neues Auto bekommen, das heißt ein jahrzehntealtes für Hundert Mark. Das Schiebedach und die handverstellbaren Außenspiegel in der tadellosen, fast glänzenden Aluminiumfassung, waren mein ganzer automobilistischer Stolz, ansonsten galt es nur über die Brücke zu kommen.

Das war damals leichter als heute. Mit heute meine ich dieses und wahrscheinlich das nächste Jahrzehnt, in dem die Stadt die Vernachlässigung ihrer Straßen und Brücken mit teuren Baumaßnahmen versuchen wird wettzumachen.

In dem Baustellenlabyrinth, das auf den Brücken und an den jeweiligen Enden oder Brückenköpfen – wie soll man das nennen – entstand, ist nichts mehr von der Stimmung jener Jahre zu spüren als ich in dem alten DAF nach Kalk fuhr. Wenn man auf der Brücke einen bestimmten Winkel einnahm, huschte sogar der Dom für einen Moment im Seitenspiegel vorbei. Sterne glitzerten durchs offene Schiebedach. Und es gab Sommerabende, an denen sich die Stadt auf einer Weise mitteilte, an die ich mich heute besser erinnern kann, als an die Wege und die Straßen, die ich damals einschlug. Rauchschwaden stiegen aus den Türmen der Chemiefabrik in den grauen Herbsthimmel und zogen weiter über den Rhein Richtung Leverkusen. Aber war die Fabrik damals überhaupt noch in Betrieb? Und weil wir uns vor den Ergebnistafeln einer Chemieklausur kennengelernt hatten, will ich unbedingt diese Rauchschwaden gesehen haben, aber vielleicht gibt es sie nur in meiner Vorstellung. 

So etwas kommt eigentlich eher in Geschichten vor und diese wäre auch eine. Also Chemiefabrik, Chemieklausur, ein alter DAF und eine noch nicht baufällige Brücke sind das kleine Startkapital der Geschichte, die nach außen hin keine Höhen und Tiefen hatte, keine mitteilungswürdige Einzelheiten, sondern lediglich eine eigene, vielleicht mir eigene Stimmung aus der, der Zufall eine Kalker Erinnerung geschaffen hat; ähnlich einer übermalten Photolandschaft von Gerhard Richter. Wenn ich schreibe vermischen sich ohnehin Bilder, Inhalte und Vorstellungen; zieht man an einer Seite entspannt sich eine andere. Ich höre in mich hinein, wie in eine Muschel, in der ich von Windung zur Windung tiefer in das Rauschen einer Vergangenheit tauche, die, obwohl meine eigene, heute so fern und fremd ist, wie die Orte und die Menschen aus jener Zeit. Aber, doch statt Musik höre ich eine Katze und erinnere mich sogar an ihrem Namen: Möhre.

von Peter Rosenthal

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