Leben auf und zwischen Baustellen: „Das ist alles sehr unschön.“

Ein Bericht vom Stadtgespräch mit OB Reker

„Wir können wirklicht nicht alles gleichzeitig machen“, erklärt Henriette Reker gegen Ende des Stadtgesprächs im proppevollen Bürgerhaus Kalk am Mittwochabend des 20. November, und nach über zwei Stunden zuweilen hitzigen Dialogs lässt sich Kölns Oberbürgermeisterin tatsächlich kaum der Vorwurf machen, sie wolle mit Schönrednerei von allerhand Baustellen ablenken.

Womit wir gleich beim drängendsten Thema sind, das nicht nur Kalk, sondern die Domstadt im Allgemeinen betrifft: Die Baustellen. Davon gibt es nämlich bereits zahlreiche im herkömmlichen und scheinbar unzählige im weiteren Sinne. Viele davon bringen einerseits weit mehr als nur organisatorische Herausforderungen für die Verwaltung und konkrete Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger mit sich. Andererseits, so Reker, gehe es nicht ohne Baustellen, wenn im Stadtgebiet 26 neue Schulen, und in Kalk mehrere hunderte neue Wohnungen, ein großer Teil davon übrigens Sozialwohnungen, entstehen sollen.


Doch manche dieser Baustellen kosten seit geraumer Weile gewaltig Nerven. Zum Beispiel an der Gemeinschaftsgrundschule Grüneberg, die seit drei Jahren von einem Baugerüst umgeben ist – als Kompensation für einen bislang im Gebäude nicht vorhandenen zweiten Rettungsweg. Als der für die Realisierung eben jenes Rettungswegs zuständige Architekt detailliert erläutert, dass die bauliche Umsetzung bereits bei der Unternehmenssuche ins Stocken gerät, lindert das die Empörung und Sorge anwesender Eltern kaum: Es habe bereits zwei Unfälle am Baugerüst gegeben, denn Kinder seien nun mal Kinder. Einige von ihnen haben ihre Wahrnehmung der gerüsteten Schule – also ihren Alltag auf der Baustelle – auf einer Plakatwand veranschaulicht, um ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen. „Nach vier Jahren auf einer Baustelle besucht mein Kind bald die nächste Baustelle“, stöhnt ein Vater im Hinblick auf die Kaiserin-Theophanu-Schule. „Das ist alles sehr unschön“, gesteht Henriette Reker, und kann doch wenig Hoffnung machen, dass es zügig voran gehen wird. Immerhin, parallel bewege sich vieles – nur eben sehr langsam.
Ein anderer Vater schildert eindringlich, wie ihn der Schimmelbefall in der städtischen Kita in der Martha-Mense-Straße und die derzeitigen Maßnahmen zur vermeintlichen Sanierung schockieren. 88 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren seien nun an andere Standorte ausquartiert worden. Die Aufweichung sicherer Strukturen für die Jüngsten bringe neben Qualitätseinbußen bei der pädagogischen Betreuung eine solche Mehrbelastung für das Personal mit sich, dass Kinder aufgrund des hohen Krankenstands wiederholt nicht betreut werden könnten. Zudem schiene es so, also ob die städtische Kita nicht von Grund auf saniert werde, sondern eine ohnehin schon veraltete Küche notdürftig auf Vordermann gebracht und der Schimmel nur oberflächlich entfernt werde. Bevor sich der Vater in unappetitliche Details vertiefen kann, kanzeln ihn die anwesenden VertreterInnen aus der Vewaltung ab, dass der für dieses Thema zuständige Ansprechpartner heute Abend nicht vor Ort sei.


Zu jenem Zeitpunkt des Stadtgesprächs stehen zwar leitende VerwaltungsmitarbeiterInnen Rede und Antwort, doch die Oberbürgermeisterin versäumt es, aufzustehen und das Wort zu ergreifen – was mir spätestens auf den hier nachvollziehbaren Vorwurf, dass Köln eben nur eine vermeintlich kinderfreundliche Stadt sei, unbegreiflich ist. An dieser Stelle hätte manch anderes Stadtoberhaupt entschiedener und empathischer reagiert. So bleibt es dabei, dass der junge Vater zu hören bekommt, dass seine „Anregung“ mitgenommen und an die zuständige Stelle weitergeleitet wird. Das ist alles andere als feinfühlig.
Erst rund eine Stunde später meldet sich Reker verhältnismäßig leidenschaftlich zu Wort, als sie aufzählt, welche Themen sie bislang zur Chefsache erklärt hat – nämlich bei jenen mitmenschlichen Belangen, bei denen ihrer Überzeugung nach Haltung gefragt sei.


Dass nicht nur viele Kita-MitarbeiterInnen aus dem letzten Loch pfeifen, dokumentiert die Wortmeldung eines Pflegers aus dem Krankenhaus Merheim, der von zahlreichen Kollegen berichtet, dass sie aufgrund des Personalnotstands einfach nur noch „die Schnauze voll“ hätten, so dass selbst am Standort ausgebildetes Stammpersonal nun darüber nachdächte, den Job zu quittieren. Wenn diese praktisch unersetzlichen Leute gingen, wäre der Qualitätsverlust durch nichts und niemanden aufzufangen, vor allem nicht durch Leiharbeiter. Reker signalisiert mehr als nur Verständnis, möchte sich jedoch nicht festlegen, ob bereits im Sommer 2020 Entlastung geschaffen werden kann.


Inzwischen ist der halbwegs harmonische Einstieg in die Veranstaltung bereits fast vergessen: Dass Reker sich über die Eröffnung „einer der innovativsten Bibliotheken Deutschlands“ im Stadtteil freut, den Ausbau des Fahrradverkehrs vorantreiben und Grünflächen planen möchte, und große Hoffnungen in den Bildungscampus des Erzbistums hegt. Dieser soll junge Menschen zukünftig bis ins Berufsleben begleiten, die dazugehörige Grundschule wird im kommenden Jahr die ersten Kinder begrüßen. Um eine persönliche Anekdote aus jungen Jahren nicht verlegen, erklärt Reker ihren Willen „aus Kalk wieder zu machen, was es verdient hat zu sein: Ein liebenswerter Stadtteil.“ Doch dieses Vorhaben ließe sich nur durch die „Bündelung aller Kräfte“ umsetzen, so die Oberbürgermeisterin, die sich in Kalk einer so großen Anzahl interessierter Menschen gegenübersieht, dass die Bestuhlung des Bürgerhauses bei weitem nicht ausreicht. Die erst seit zehn Wochen im Amt befindliche Bezirksbürgermeisterin Claudia Greven-Thürmer zeigt sich ob des Interesses und Engagements der Menschen begeistert und wirbt für ein „individuelles Erscheinungsbild des Stadtteils“. Von allen städtischen VertreterInnen erhält sie für ihre kurze Eröffnungsansprache den freundlichsten Beifall. Die Verwaltungsspitzen kommen eher weniger gut an. Dr. Katja Robinson ist noch nicht lange Leiterin des Amts für Soziales, Arbeit und Senioren, und kann wohl deshalb auf Milde hoffen, als sie die im Stadtteil-Vergleich enorm hohe Arbeitslosigkeit in Kalk tatsächlich als „Chance“ angesichts des Fachkräftemangels bezeichnet – spricht da Naivität, Mut oder reines Gottvertrauen aus der promovierten Juristin?
Klaus Harzendorf, Leiter des Amts für Straßen und Verkehrsentwicklung, nimmt in Kalk eine „völlig andere Stimmung als in den [depressiven] Neunzigern“ wahr, und provoziert bereits früh Gelächter im Publikum, allerdings mit einem ungläubigen bis genervten Beiklang. Denn seine optimistischen Ausblicke auf eine Stadt, in der die Menschen zunehmend vom Auto auf den ÖPNV oder das Fahrrad umsteigen und sich dabei sicher fühlen können, scheinen für viele Bürgerinnen und Bürger angesichts täglicher Ärgernisse und Gefahrensituationen kaum anschlussfähig. Während der Amtsleiter beispielsweise die neu gebaute Einmündung der Rolshover Straße in die Kalker Hauptstraße als beispielhafte Lösung für mehr Sicherheit im Straßenverkehr anpreist, können anwesende Radfahrer nur mit dem Kopf schütteln und bitten um eine Ortsbegehung – worauf sich Harzendorf einlässt. Dass Rollstuhlfahrer im ÖPNV mancherorts noch länger das Nachsehen haben werden, liegt – richtig geraten – an sich in die Länge ziehenden Baumaßnahmen nebst bürokratischen Hürden.


Sicherheit war bereits im letzten Stadtgespräch in Kalk ein stark diskutiertes Thema, und wenn Hermann Schiffer als Leiter der Polizeiinspektion 6 davon berichtet, dass die Kollegen im Streifendienst in Kalk einen „sehr harten Dienst“ erledigen, dann kann sich dazu offenbar jeder im Saal des Bürgerhauses seinen Teil denken; ebenso wie zu Angsträumen, und wie diese umgewandelt werden könnten – z.B. mit mehr Licht in Unterführungen, wie ein Bürger anmerkt. Doch auch hier scheiterten pragmatische Umsetzungen und bürgerschaftliches Engagement – quasi an den Baustellen in Betonköpfen.
Zu wenig wahr- und ernstgenommen fühlen sich, das wird heute Abend deutlich, die sozialen Initiativen und Projekte in Kalk, die in die Planungen der „Hallen FÜR Kalk“ stärker eingebunden werden möchten. Doch wenn z.B. die Aussagen aus der Verwaltung zur Zukunft des Dirtparcous – zusammenfassend: es ist sehr, sehr, sehr schwierig und ergo eine Lösung noch nicht ins Sicht – exemplarisch für die Kommunikation zwischen mehr oder minder Aktiven auf beiden Seiten stehen, dann stellt sich automatisch die Frage, welche Formen der Beteiligung geschaffen werden können, um Kreativität und Einsatzfreude gerade von jungen und jung gebliebenen Bürgerinnen und Bürgern nicht versanden zu lassen.

Das in diesem Rückblick längst nicht alle an diesem Abend angesprochenen Themen Erwähnung finden, verdeutlicht in der Tat, wie schnell Einzelne den Überblick angesichts mannigfaltiger Herausforderungen vor der Haustür und in der doch zweifelsohne bunten Stadt dahinter verlieren können. Nicht alles ist sehr unschön. Und nicht alles ist so schwarz-weiß wie die Luftballons, mit denen einige Kalker für ihre Forderungen im Bürgerhaus warben. Doch zwischen Schimmelpilz, Wohnungsnot, Personalnotstand in wichtigsten Arbeitsbereichen und unzähligen Baustellen ist es manchmal alles andere als leicht, sicht das zu vergegenwärtigen.

Thor Wanzek

(lebt seit 2018 in Kalk, fährt oft auf dem Drahtesel durch die Stadt und erlebt diese nur selten als fahrradfreundlich)

1 comment

  1. Danke für diesen Report eines schwer zu ertragenden Abends. Ich wage nicht mir vorzustellen, wie es in Kalk aussehen würde, wenn sich nicht so viele Menschen für ihren Stadtteil engagierten.

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