Meine Mutter liebt Jesus.
Nicht wie die Nonnen ihn lieben, die Jesus ja heiraten. Sondern sie spürt Jesus. Vor allen Dingen in der Karwoche.
Die Karwoche war für uns Kinder immer die schlimmste im Jahr. Es waren viele Wochen schlimm, aber die Karwoche war am schlimmsten. Denn meine Mutter hat in der Karwoche wirklich das Leiden Jesu nachgespürt. Seine Schmerzen. Wie er die Sünden auf sich genommen hat. Wie er sich dabei gefühlt haben muß, für uns, den Pöbel, sein Leben herzugeben. Und auf so eine erbärmliche Art und Weise, so barbarisch umgebracht zu werden!
Der schlimmste Tag der schlimmen Karwoche war dann Karfreitag, denn wir Kinder durften uns nicht regen, wir durften uns nicht rühren, ein falsches Wort – und wir sind dran.
Das Witzige ist, daß Ostersonntag die totale Lebensfreude eintrat. Nach zwölf Uhr nachts konnten wir wieder aufatmen. Das war auch für uns eine Auferstehung.
Aber die Karwoche war schlimm. Und wir haben die Karwoche auch noch doppelt gehabt, weil katholische und orthodoxe Karwoche nicht immer zusammenfallen – und meine Mutter besucht beide Kirchen.
Ich weiß nicht, wer sie dazu inspiriert hat, aber vor etwa fünfzehn Jahren sammelte sie in den Kirchen immer das Wachs ein. Die Kerzen brennen ja ab und unten bleibt das Wachs.
Damals haben wir in einer Wohnung in der Westerwalderstraße gelebt. Das war eine Wohnung mit einer riesengroßen Terrasse, so groß wie meine ganze Wohnung jetzt. Die war ausgelegt mit Betonplatten.
Zwischen den Platten wuchs Gras, das haben wir ausgerupft. Meine Mutter hat dann die Terrasse mit der Dreifaltigkeit bemalt, also Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, direkt auf dem Boden. Mit Pigmentfarben und Gold. Ein Riesenbild mit Engeln und allem Drumunddran, eine Art Ikone.
Dann hat sie das gesammelte Wachs eingeschmolzen und die Rillen und Platten damit versiegelt. Die komplette Fläche wurde mit Kirchenwachs übergossen.
Dann kam der Sommer und wir konnten die Terrasse nicht mehr betreten, weil das Wachs geschmolzen war.
Das war alles etwas verrückt. Aber wenn du mit meiner Mutter redest, dann denkst du, sie hat das wirklich erlebt, sie hat wirklich gelitten mit Jesus. Nicht wie eine Insta-Aktivistin, die schwarze Kleidung anzieht, weil Jesus tot ist. Sondern sie hat die Schmerzen wirklich erlebt. Ich bin ja nicht religiös, aber wenn sie es erzählt, da schmilzt in mir auch etwas, wie das Wachs.
(Die siebte Kalker Legende, erzählt von Magda, aufgeschrieben von Alexander Estis)