Arbeiterviertel

Geschichten

Ich wohne nun eine ganze Weile in Kalk. Laufe durch Buchforst zur Bahn. Mal schleiche ich nachts durch die Straßen, mal bin ich wachsam wie ein übereifriger Jagdhund in Erwartung der nächsten erfolgreichen Fährte. Wenn ich nach Hause komme, komme ich mittlerweile hier her. Man gewöhnt sich an die Häuser. Den Dreck auf der Straße. Den Lärm vom Güterbahnhof. Das Quietschen wenn sich der Stahl aneinander reibt. Man gewöhnt sich auch an die Menschen mit denen man lebt – nie wirklich, nie ganz. Auch sie quietschen irgendwie. Mitten in der Stadt teilt sich das Viertel in einen Bereich für Gebliebene und einen Durchgangsbereich für die immer aufstrebende Jugend.

Manchmal zieht sich diese „Jugend“ bis in den Ruhestand. Aber die Euphorie und die Hoffnung des Anfangs und darauf, dass alles auch hätte anders kommen können und das Wissen darum, dass es manchmal auch immer noch anders kommt, hält hier viele erstaunlich jung – trotz der ewigen Zigarette in der Kneipe ums Eck, die es hier natürlich noch gibt. Mittlerweile müssen die rauchenden Köpfe raus. Da boxen sich schon mal zwei wegen des zusätzlichen Stresses. Letztes Jahr erst fallen zwei Kampfhähne einfach um. Der eine wiegt doppelt so viel wie der andere. Die Wirtin kommt auf den Bürgersteig und ruft ihm irgendwas zu. Sie habe ihm doch gesagt er solle jetzt nach Hause gehen. Morgen haben sich hier eh alle wieder lieb und liegen sich in den Armen. Trotz der ständigen Zwietracht. Die Gruppe der anderen steht drumherum und starrt mit glasigen Augen in dieses seltsame Nichts, das hier das Highlight des Tages bleibt. Und das ist nicht mal Ironie, schließlich kommt die Polizei wenige Minuten später um die Ecke und konterkariert die Dramaturgie des Samstags, der hier um 17:59 Uhr schon deutliche Spuren der Zersetzung hinterlassen hat.

Ein paar Meter weiter treffe ich auf die Nachbarschaft. Hinter dem Fenster, das eigentlich immer offensteht; fast wie ein Beichtstuhl für jedermann*frau. Das Loch ist das offene Ohr des Viertels. Hier sammelt sich das, was niemand über Twitter erfährt. Einmal wurde einer lauthals weggeschickt. Es blieb eine Ausnahme (soweit ich weiß). Aus der Wohnung riecht es immer ein wenig nach kaltem Rauch, auch wenn gerade niemand in Sicht- oder Hörweite ist. Der Geruch schmeckt nach alten Möbeln und kaltem Fett. Aber irgendwie bekommt dieses Fenster gerade dadurch so etwas wie Leben eingehaucht. Die ständige Präsenz des Gestern ist hier im kalten Fett konserviert. Gespräche über wie viele Hunde mögen hier schon erfolgreich geführt worden sein? Es muss sich um einige Generationen handeln. Heute spielen alte Hunde keine Rolle. Neue Gespräche kommen dazu. Man hat sich zum Grillen getroffen. Der Startschuss muss schon etwas her sein. Auf der Mauer liegen einige Halbe. Natürlich sind sie allesamt leer. Ich schätze die Zahl auf etwa einen Kasten. Halb Gilden, halb Reissdorf – in jedem Falle Kölsch. Wenn ich auf dem Heimweg bin, wird sich die Sammlung um einen Mauerabschnitt verlängert haben, da bin ich mir sicher. Die Stimmung ist hier am Wochenende immer noch gelöster als unter der Woche. Wenn das Wetter passt, trifft man sich in der Gemeinschaft. Irgendwie sieht es aus, als gäbe es für jeden einen sicheren Platz.

Kindern wird hier besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Man kümmert sich. Alkohol hin oder her. Ein Planschbecken steht auf der Wiese neben dem Spielplatz, der keiner mehr ist. Vor einigen Jahren hat man die baufälligen Klettergerüste entfernt. Geblieben ist dreckiger Sand. Wahrscheinlich folgen die sich gegenüberliegenden Wohnblocks bald und werden abgerissen. Wenn die neuen Häuser stehen, sind die Kinder längst von hier weg – nicht bis ans andere Ende der Welt, aber in eine andere Straße gezogen. Man denkt hier klein. Und authentisch. Weiter kommt man nicht. Das ist so. Kein Grund zur Depression. Hier muss man das Leben hart arbeiten. Man bleibt bescheiden. Manche bleiben immer an Ort und Stelle und werden einfach alt. Ein paar Häuser weiter lehnt einer auf dem Balkon. An anderer Stelle raucht einer am Fenster. Der Mann in der Trainingsjacke vom Fußballverein ist heute wohl allein in seiner Wohnung. Normal vertritt er sich etwas wirr die Füße vor der Tür, nachdem der Pflegedienst da war.

Die Wiese mit dem Pool der „armen Leute“ macht einiges her. Spielzeug liegt auf dem Rasen. Es sieht alles irgendwie zufällig, aber sehr liebevoll hergerichtet aus. Neben dem Gerede der solidarischen Gemeinschaft klingen die Kinderstimmen gleichermaßen wie das Glück vergangener Tage und die zukünftige Erinnerung an die gemeinsame Zeit, damals im Sommer, als man Pläne schmiedend in den Sternenhimmel starrte und darauf wartete, dass die Erwachsenen sich darüber beschweren, dass man immer noch wach sei. Aber man hatte hier ein sehr lockeres Händchen in Sachen Erziehung und damit ist das Gegenteil von Gewalt gemeint. Konturlos bliebt das Zusammenleben trotzdem nicht. Tagsüber sprach man manchmal von einer anderen Welt. Man erzählte sich von dem, was andere „Reisen“ nannten, aber man selbst nicht mal im Urlaub finanzieren konnte. Die Realität war ernst. Aber ehrlich. Kein Amerika, Australien oder Neuseeland. Träume blieben bodenständig. Manche fuhren natürlich in den Ferien in die von anderen so genannte „Heimat“. Das war aber kein Reisen. Andere blieben auch deshalb einfach hier. In der Grundschule sagte ein Kind einmal einen Satz, den es aufgeschnappt hatte und der fast schon philosophisch klang: „Flugzeuge sind fremde Himmelskörper“.

Eigentlich ist die Heimat hier in Köln-Kalk, die Nachbarschaft und der erste Junge mit dem man hier im Kellereingang schlief. Zumindest fast. Das gemeinsame Spiel. Die Sprünge ins kalte Wasser im Pool. Das seltsame Lachen von einer Frau in der Gruppe. Der Einfallsreichtum des Mannes, über den sie alle herzhaft grübeln – wenn er gerade für fünf Minuten auf der Toilette verschwindet, aber natürlich alles im hellhörigen Hof mitverfolgen kann. Und es ist dieser zynische Realismus und der unangestrengte Humor von allen in dieser besonderen Gemeinschaft.

Natürlich ist die Mauer ein Grenzfall. Inmitten von Holzkohle und Fleisch riecht der Alkohol scharf und treibt die Unruhe des Entzugs auch in die Kinderlunge. Der Tremor, den glückliche Tage hinterlassen, ist keiner von dem man in schlechten Zeiten zur Ruhe findet. Der Schlaf bleibt stets unruhig, wenn man direkt an der Autobahn wohnt. Und wenn die Miete wieder fällig ist, aber das Konto leer und der Wohnraum doch ohnehin nicht reicht. Man sucht das Glück in der Luft. Zwischen den Häusern. Die Hoffnung auf ein Leben irgendwo anders in Freiheit bleibt. Aber ob der Aufstieg gelingt und wer eine faire Chance bekommt, das steht nicht in den Sternen, sondern auf der Monatsendabrechnung. Es ist greifbar. Oder eben nicht. Manchmal fahren hier Autos über die Straße, die noch illegaler aussehen, als sie klingen. Schwarzgeld, Drogen oder Schutzgeld – man sieht die Kriminalität, wenn man genau hinschaut. Erst neulich standen zwei Männer im Kiosk, einer an der Tür, einer im Raum. Der Kioskbesitzer – ich habe übrigens erst durch einen seltsamen Zufall begriffen, dass Er nicht der Andere ist, der auch manchmal hier ist; Er betreibt den Laden wohl mit seinem Bruder zusammen; ich verband beide bis zuletzt nicht mit derselben Registrierkasse (verrückt!) – dieser nette Mann überweist gerade mit seinem Handy Geld ins Ausland und ist heute angespannt wie eigentlich nie. Und das liegt wohl kaum daran, dass ich nach dem Sport alkoholfreies Bier kaufe…

Clemens Fuhrbach


Zum Nachlesen und Nachhören:

https://www.clemensfuhrbach.com/de/2019/09/07/arbeiterviertel/



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